Samstag, 5. Mai

Veröffentlicht auf von Marie

Nein, heute wird nicht gejammert über das Aufstehen und den Morgen an sich. Blau und sonnig wölbt sich mir der Himmel entgegen. Ein Rest Raureif schattet unter den großen Bäumen. Das Ehepaar, dass morgens unter meinem Fenster seine erste Runde dreht, er mit Rollator, sie ihn liebevoll umfassend, ist in dicke Daunenjacken gehüllt. Der 5. Mai ist ein besonderer Tag: meine wundervolle Schwester hat Geburtstag. Und vor 31 Jahren habe ich mein Examen abgelegt. Damals träumte ich – vor dem Abschlusskonzert in Lampenfieberpanik bibbernd – von einem Leben auf den Bühnen dieser Welt und von glamourösen Liebhabern. Und heute? Reha, Waldorflehrerin, Eigentumswohnung und Golfspielen mit dem Ehemann. Dazu das Wichtigste: Glück.

So räsonierend gehe ich erst einmal meinen hausfraulichen Samstagspflichten nach; in diesem Fall heißt das: Cola und Karamellwaffeln einkaufen, Wäsche waschen, ein Peeling und Nägel blau lackieren. Dann begebe ich mich zum Gradierwerk und setze mich auf die lange Bank, deren kurze Sitzfläche und steile Lehne an Reue, Sünde, Buße erinnern. Irgendwie ist es eine katholische Bank und entsprechend unbequem. Die nächste Stunde verbringe ich dort lesend und Sole-Luft atmend. Noch hängt der Horizont leicht nach rechts, sodass die Weser bergauf zu fließen scheint. Aber das unangenehm dumpfe Gefühl der gestern reichlich konsummierten Schmerzmittel lässt nach und heute bin ich wild entschlossen, nicht im Medikamentendämmer in der Klinik zu dümpeln, sondern mich zu bewegen. Meistens hilft's.

So konsultiere ich meine Wanderkarten-App, die mich letztens so schmählich im Stich gelassen hat, und wähle eine Route zu einem viel gelobten Aussichtspunkt ein kleines Stück Weser-aufwärts. Fröhlich marschiere ich mit meinen Stöcken los, zunächst bequem auf dem Radweg an der Weser entlang. Inzwischen ist es eher heiß als warm. Ich genieße die Luft und den Wind auf der nackten Haut meiner Arme. Dann fordert mich die App auf, links in den „Single Trail“ abzubiegen. Nach ein paar hundert Metern stehe ich vor einem Schild, dass ganz ungute Erinnerungen weckt; der Durchgang ist bei Lebensgefahr verboten. Und damit klar ist, dass es ernst gemeint ist, stapelt sich auch gleich etliches arborale Gerümpel auf dem Weg. Die inzwischen erfahrene Wanderin kehrt auf dem flachen Absatz um. Also geht es weiter am Fluss entlang, den ich leider wegen der Bahnlinie dazwischen nicht mehr sehen kann. Links geht es sehr steil hoch, weitere Abzweigungen gibt es nicht. Nach etwa drei Kilometern wird mir langweilig. Schier endlos dehnt sich das Asphaltband des Radweges vor mir. Ich kehre um, verpasse aber irgendetwas auf dem Rückweg und finde mich plötzlich zwar direkt gegenüber der Klinik wieder, aber erheblich viele Höhenmeter darüber. Die App sagt monoton „bitte umkehren“. Ich mache das nervige Ding aus und navigiere nach Gefühl: Richtung Fluss, allzu schmale Wege meidend und konsequent bergab. Unnötig zu sagen, dass ich keiner Menschenseele begegne, dafür – Kreischalarm! - einer Schlange. Eine halbe Stunde später sehe ich die ersten Häuser. Von dort finde sogar ich zum Fluss. Ob das je noch etwas wird mit den Wanderkarten und mir?

Das 15-Fettpunkte-und-die hab-ich-mir-ehrlich-verdient-Abendessen genieße ich intensiv. Für später gibt es ja noch die Karamellwaffeln.

Was ich heute gelernt habe? Folge deinem Gefühl, damit kommst du auch ans Ziel – dauert nur länger.

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