Pfingstmontag, 21. Mai

Veröffentlicht auf von Marie

Ungeduscht zum Frühstück. Da ich plötzlich überraschend gut schlafe, nutze ich jedes Sekündchen aus, bevor ich kurz vor Thekenschluss im Speisesaal erscheine. Formvollendet entschuldige ich mich bei der auffallend dünn gesäten Schar meiner Mitstreiter und ernte fassungslose Blicke. Dass ich dreieinhalb Wochen gebraucht habe, um an diesen Punkt zu kommen, erstaunt doch sehr. Anscheinend bin ich seit geraumer Zeit die Einzige, die sich morgens Zeit nimmt, um zumindest einigermaßen repräsentabel am Frühstückstisch zu erscheinen. Interessant, was die Reha mit einem so anrichtet.

Nach dem Frühstück gähnt mich ein weiterer leerer Tag an. Da mein Knie die gestrige Aktion doch ein wenig übel genommen hat, kommen sportliche Betätigungen für mich heute eher nicht in Frage. Draußen ist es wunderbar sonnig, allerdings pfeift ein sehr frischer Wind durch das Weser-Tal. Warm angezogen setze ich mich ans Gradierwerk für ausführliches Lesen, Plaudern, was auch immer. Das Mittagessen ist auch heute ungewöhnlich üppig und überraschend lecker. Danach ist erst einmal therapeutisches Nachruhen angesagt. Und während ich meinen Bauch verdauen lasse, kommt in mir der Gedanke auf, dass sich so wohl Langeweile anfühlen muss. Ich habe definitiv gar nichts zu tun – außer vielleicht Klausuren korrigieren, wozu ich mich aber beim besten Willen nicht aufraffen kann; das Zimmer ist aufgeräumt, der Mörder im Krimi gestellt, die Nägel sind lackiert und geduscht bin ich inzwischen auch. So etwas wie dieses Vakuum habe ich seit Ewigkeiten nicht mehr verspürt. Ich überlege, ob ich ein bisschen über die Langeweile philosophieren soll, aber das haben andere vermutlich schon vor mir weit besser getan. Und selbst das Denken ist ja schon wieder ein Etwas, wo ich eigentlich mich in das Nichts versenken möchte. Mein denkendes Nicht-Denken wird abrupt gestört durch merkwürdige Geräusche von einem Nachbarbalkon. Ich stehe auf, beuge mich weit über die Brüstung und sehe auf ihrem Balkon eine etwa 60-jährige Dame sitzen, die Bild der Frau liest und dazu Gangsta Rap hört. Armes Deutschland!

Ich beschließe, dass es mal wieder an der Zeit ist, dem Fluss zu lauschen und setze mich auf den geliebten Bootsteg. An der Promenade ist erschreckend viel los. Ob das am Feiertag liegt? Oder an Tante Lindas 104. Geburtstag? Ganze Familien gehen hier spazieren, radelnde Großgruppen besichtigen das Gradierwerk, um mich toben Kinder, springen Hunde im Wasser herum, die Damen reden über dies und das und jenes und alles sehr schnell und sehr laut, die Herren über Fußball, während die älteren Semester mit Rollator meist paarweise schlendern und sich gegenseitig in die Hörgeräte brüllen. Ich flüchte auf mein Zimmer und beginne, den nächsten Provence-Krimi zu lesen.

Nach dem Abendessen ist es am Steg erheblich ruhiger. Die kühle Brise hat nachgelassen und der warme Sommerabend senkt sich wie ein blaues Seidentuch über das Tal. An mir zieht mein Freund, der Fischotter vorbei.

Fazit des Tages: ich atme die Welt – und das muss reichen.

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