Samstag, 26. Mai, Abschied

Veröffentlicht auf von Marie

Die besten Zeiten sind wirklich vorbei! So habe ich mich in der letzten Nacht gefühlt, nicht nur ob meiner maroden Gebeine. Lautstark telefoniert ein Stockwerk schräg über mir ein Herr. Inzwischen ist es weit nach Mitternacht und das Gespräch dauert bereits mehr als zwei Stunden. Wahrscheinlich ist eine Frau am anderen Ende der Leitung. Natürlich hat besagter Herr die Balkontür offen wegen der leicht schwülen Wärme. Ich höre erheblich mehr über diesen Menschen als ich wissen möchte. Irgendwann habe ich die Nase voll und marschiere hoch. Da aber meine Koffer schon gepackt sind – mit Bademantel, Badeschlappen, etc. – stehe ich im Nachthemd vor der Tür, hellblau-weiß gepunktet und von knapp über Busen bis sehr knapp unter Po reichend. Ich klopfe und die Tür wird aufgerissen. Sehr höflich bitte ich um das Schließen der Balkontür. Sogar ein Lächeln bringe ich zustande. Die Tür wird zugeknallt. Mann, Mann, Mann! Anscheinend sehe ich so alt aus, wie ich mich morgens oft fühle. Zurück im Bett stelle ich fest, dass das Telefonat nur noch sehr leise fortgeführt wird. Dafür randalieren ein paar Betrunkene unten auf der Straße. Die Vorfreude auf die Heimat steigt mit jeder schlaflosen Minute.

Zum Frühstück haben wir uns alle für 7 Uhr verabredet. Zwei von uns sind schon gestern gefahren, die quirlige Sächsin, hinter deren sanft scheinender Fassade so viel Energie und Klarheit wachen, und unsere supercoole Tattoo-Oma. Der Rest sitzt weit weniger lustig als sonst am dürftigen Frühstückstisch. Irgendwie drückt der Abschied uns allen aufs Gemüt. Dass unsere lustigen, ernsten Gespräche, unser schier am Boden-Liegen-vor-Lachen und die sensiblen Worte, wenn´s mal wieder ganz unrund läuft, dass unsere verschworene Truppe jetzt für immer auseinander geht, das nagt an jedem in irgendeiner Form. Einer nach dem Anderen macht sich auf den Weg: der sanftmütige Metzger, dessen strahlende Familie schon auf ihn wartet, die zierlich-asthmatische Dame, der vor Aufregung schon wieder der Atem stockt, die taffe Lady aus Potsdam, die immer so wirkt, als ob sie alle Probleme der Welt locker stemmen könnte und die mit sich selbst so hadert, der Borussia-Philosoph, der auffallend still geworden ist, die rheinische Frohnatur, die gestern noch ihr Auto in die Werkstatt bringen musste, weil ein halber toter Waschbär unter der Motorhaube lag, und „dat Ischias“, deren Warmherzigkeit mir vielleicht am meisten fehlen wird. Ich bleibe allein zurück.

Mein Zug geht erst in einer Stunde und mein Gepäck ist fix und fertig gepackt. So nutze ich die Gelegenheit, mich vom Fluss zu verabschieden, dessen wechselnde Farben, Geräusche und Gerüche in diesen Wochen den steten Hintergrund bildeten. Und während ich am Bootssteg sitze und über den Lauf des Lebens sinniere, höre ich hinter mir eine fröhliche Stimme, die mich ruft. Die schwarzhumorige Dame aus dem Sauerland mit dem Dauerschwindel wartet noch auf ihren Abholservice. Und so sitzen wir zu zweit und lassen den Fluss an uns vorüberziehen.

Der Zug, in dem ich kurz darauf sitze, fährt auf der anderen Fluss-Seite an der Klinik vorbei, deren hässliche Gebäude ich ein letztes Mal grüße. Ein Monat ist vergangen; das Grün der Wälder ist dunkel und satt geworden, die blühenden Rapsfelder haben sich in zartgrün wogende Flächen gewandelt. Nur der Fluss, in dessen kräuselnder Oberfläche sich der zartblaue Himmel und ein paar weiße Wölkchen spiegeln, ist gleich geblieben. Bin das nicht alles Ich?

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