Freitag, 18. Mai

Veröffentlicht auf von Marie

Die Nacht war schlafarm. Mehrfach stehe ich auf und hole mir aus der Kühleinheit eine Etage tiefer ein frisches Coolpack, um den nahenden Kopfschmerz in Schach zu halten. Gegen Morgen wird es besser. Als der Wecker klingelt, drücke ich – wie immer - kurz auf die Snooze-Taste. Und erwache zwei Stunden später. Eigentlich sollte ich jetzt nach einem wie auch immer gearteten Frühstück mit einem ganzen Trupp schon beim Power Walking sein. In Liebe und Dankbarkeit umarme ich mein Unterbewusstsein und beschließe, die so entstandene Pause beim Dorfbäcker frühstückend zu verbringen. Ich gönne mir eine ungesunde Kombi aus Getreide, Milch und Obst in Form eines Stückes Erdbeerkuchen und schlürfe dazu einen Kaffee, der nicht nur so aussieht, sondern auch so schmeckt. Am Nebentisch sitzen zwei ältere Damen und tauschen sich lautstark über Aktuelles aus. Ich fühle mich wie bei den Landfrauen in Hengasch.

- Gestern hab ich die Hanna getroffen. Die ist ja in die Breite gegangen.

- Ach, dabei war die doch früher mal ganz hübsch.

- Ein hübsches Gesicht hat se heute noch.

- Sach ma, weißt du, dass die Rosemarie tot ist?

- Nee. Wirklich?

- Die war ja schon 80.

- Seit dem Schlachanfall war dat bei ihr ja auch nich mehr so ganz inne Reihe.

- Ihr Sohn hat se im Bett gefunden. Eigentlich ein schöner Tod.

So geht es munter weiter. Ich erfahre außerdem, dass Tante Linda am Wochenende ihren 104. Geburtstag feiert, die Kinder der Ellen bei der Grabpflege so gar nicht helfen – nee, also, wenn das meine wären! – und Josefine hat was mit dem Gärtner. Da tut se jeden Tach mit dem Rollator hingehen und dann sind stundenlang Türen und Fenster zu. Mann, Mann, Mann! So geht das lautstark beim Kaffee munter weiter und ich verstehe, dass der Bäcker hier im Dorf viel mehr als nur Brötchenlieferant ist.

Nach einer Stunde ruft mich die Pflicht in Form der „Psychologischen Diagnostik“. Wieder müssen Fragebögen ausgefüllt werden zum Vergleich mit den Eingangswerten. Da ich in meiner letzten Stunde beim Herrn Psychologen sehr interessiert einiges zu den Bögen gefragt habe, garniert mit ein paar unterschwelligen Komplimenten, bin ich mir ziemlich sicher, in welcher Weise ich meine Kreuze möglichst zweckdienlich setzen muss. Ein extrem befriedigendes Gefühl.

Danach springe ich noch kurz unter die Dusche. Während ich im Bad stehe und mich abtrockne, geht plötzlich die Tür auf und zwei Männer stehen vor mir, ein junger Kerl und ein älterer Herr, beide in Handwerkerkluft. Sie müssten nur kurz was angucken. Mich jedenfalls nicht. Eine Entschuldigung oder gar peinliches Zurückweichen angesichts meiner Nacktheit – Fehlanzeige. Ich komme ins Grübeln. Bin ich jetzt in dem Alter, wo die Frauen unsichtbar werden? Strahle ich überhaupt noch irgendeine Weiblichkeit aus? Auf der anderen Seite ist mir schon mehrfach aufgefallen, dass Patienten von Mitarbeitern des Hauses als grenzdebil oder kurz vor der Kompostreife behandelt werden. So kam kürzlich eine Putzfrau in mein Bad, um dort Dinge zu richten, während ich auf der Toilette saß. Sie fing sogar ein Gespräch mit mir an. In dieser Situation aufzustehen hätte ich als sehr peinlich empfunden. Ich habe dezent den Abzug betätigt und bin mit zusammengedrückten Beinen einfach sitzen geblieben. Merkwürdige Sitten!

Den Nachmittag verbringen wir in sehr froher Runde im beliebten Ausflugslokal oberhalb der Weser. Dicke, fette Torten und Eisbecher sind der gerechte Ausgleich für das spröde Mittagessen. Abends hole ich die versäumte Einheit Gerätetraining nach, die einmal mehr therapeutisch völlig sinnfrei in meinem Plan direkt hinter der Ultraschall-Behandlung lag. Die Aufsicht dort ist flexibel genug, sodass ich auf den Abend tauschen durfte. Ich bin alleine, habe aber wenig Lust auf die Maschinen und krame aus einem Schrank ein paar leichte Hanteln. Der Aufsicht führende ältere Herr fühlt sich ungestört genug, um seine Helene-Fischer-Playlist in voller Lautstärke zu hören. Und da auch ich mich ungestört fühle, kombiniere ich das Hantel-Training mit Rumhüpfen und Tanzen.

Moral des Tages: wenn schon Bad Taste, dann richtig!

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