Dienstag, 15. Mai

Veröffentlicht auf von Marie

Der definitiv unerwartet aufregendste Tag dieser Reha. Ach was, des Jahres! Dabei war der Beginn ganz harmlos, eine Runde Ultraschall mit anschließendem Überhaupt-nicht-mehr-gehen-können, eine Runde Schwimmbad, die ich für sanftes Plätschern genutzt habe, denn erstmalig war ich den Beinübungen nicht gewachsen, und dann die „Bewegungskompetenz“. Die Dame, die uns die erste Woche so geärgert hat, ist von der Hochzeit ihrer Tochter bedauerlicherweise wieder zurück. Sie hat uns in giftgrüne Gummibänder geschnürt, die wie Therabänder, nur dicker und unnachgiebiger sind, und uns so eine Runde ums Haus gehen lassen. Die Anstrengung ist brutal; der Oberkörper wird gleichzeitig zurück gerissen wie eingequetscht und die dazu geforderte energische Pendelbewegung der Arme gegen den starken Widerstand geht schon nach wenigen Schritten übel auf die Schultern. Ich bin vernünftig genug, die Runde abzukürzen, egal, wie die Dame mich anmotzt, und die Bewegungen so klein wie möglich zu halten. Am Ende sollen wir tatsächlich in unserer Verschnürung die Treppe in den 5. Stock hoch und wieder runter laufen. Ich sage ebenso klar wie höflich, dass ich das heute und in dieser Form nicht kann – und werde im Flur vor Allen als fauler Drückeberger abgekanzelt und das in einem lauten Tonfall, der gelinde gesagt unangemessen ist. Ich bleibe stur. Mein Segen! Andere hören weniger auf ihren Körper und spüren die Folgen dieser Brachialbehandlung prompt: der Mönchengladbach-Fan hat binnen weniger Stunden so starke Schmerzen, dass etliche Spritzen in die Schulter notwendig sind. Der Rest der Gruppe schmeißt Ibu oder sonstige Mittel ein. Das für später angesetzte Geräte-Training wird von den meisten abgesagt.

Danach habe ich Chefarztvisite, die wegen der Notfälle ungewöhnlich verspätet und entsprechend kurz ist. Schmerzmittel, schonen, kühlen, wie gehabt – und schon bin ich draußen.

Die Psycho-Gruppe wird wieder von der jungen, einfühlsamen Therapeutin geleitet, die auch gerne den vorgegebenen Plan beiseite legt, wenn sie das Gefühl hat, dass Anderes Raum braucht. So können wir den Schutz dieser Gruppensitzungen nutzen, um uns behutsam zu öffnen. Als Team sind wir so gut aufeinander eingespielt, dass das wunderbar geht. Überhaupt bin total glücklich in dieser Gruppe; das wird mir täglich mehr klar.

Das Gerätetraining möchte ich eigentlich schwänzen, denn das Knie benimmt sich wie eine Diva. Auf der anderen Seite denke ich, dass ein bisschen Pilates statt Geräte nicht schaden kann und begebe mich auf die Matte. Ganz hinten im Trainingsraum ist eine 8 Meter hohe Kletterwand, vor der ich schon manches Mal staunend und stand. Ohne fachmännische Anleitung und Sicherung geht da gar nichts und der zuständige Mensch war bislang nie da. Außerdem habe ich ja diese fürchterliche Höhenangst, die mich auf einem Stuhl stehend schon leicht schwindeln lässt. Türme besteige ich grundsätzlich nicht und manch ein Urlaubsausflug auf Klippen, Wolkenkratzer oder Kirchenemporen endete schon im Desaster – mein Göttergatte dürfte da inzwischen einige Anekdötchen auf Lager haben.

Heute sehe ich erstmalig jemanden an der Wand kleben und die bunten Griffe neu anordnen. Ich beobachte fasziniert die im Seil hängende Kehrseite und sage salopp, dass das ja eine knackige Aussicht sei. Der Seilmensch lässt sich flugs herunter, strahlt mich an und fragt: „Hast du Lust zu klettern?“ Und ich sage spontan „ja“. Als er mich in das Geschirr packt, wird mir doch mulmig und ich gestehe meine fürchterliche Höhenangst, aber dass das vielleicht auch mal ganz gut wäre. Ich schlottere. Er erklärt mir kurz, wie die Sicherung funktioniert und schickt mich erst mal auf 2 Meter hoch. Zwei ganze komplette Meter! Aus dieser für mich schon furchterregenden Höhe üben wir das Herunterlassen am Seil. Schon jetzt habe ich weiche Knie – erstaunlicherweise völlig schmerzfrei – und bin vollkommen durchgeschwitzt. Und dann schickt er mich hoch – und ich klettere hoch. Ich komme bis auf fünf Meter, will schon aufgeben, aber schaffe dank Anfeuerung noch zwei weitere Meter. Ich klebe jetzt knapp unter der Decke und kralle mich in die Griffe. Dann sagt der Seilmensch: „Jetzt lass die Hände los.“ Ich kann nicht. Nichts kann mich bewegen, mich von der Wand zu lösen. „Du schaffst das, lass einfach los und halte dich am Seil fest.“ Eine Hand geht, die rechte Hand klammert dafür dreimal so fest.

Lass los“. Ich schließe die Augen, atme tief durch – und lasse los. Ich schwebe in sieben Meter Höhe, nur gehalten vom Seil und den gegen die Wand gedrückten Füßen. Nach zwei weiteren tiefen Atemzügen wage ich, die Augen zu öffnen. Ich schwebe wirklich ganz oben an der Wand – unfassbar ängstigend und großartig zugleich! Langsam werde ich herabgelassen; unten angekommen kann ich kaum stehen, so zittern meine Beine. Überschwänglich bedanke ich mich. Dann muss ich mich erst einmal auf die nächste Matte legen. Dass ich mich dieser Angst, die mich seit frühester Kindheit begleitet, gestellt habe, darüber freut sich der Seilmensch herzlich mit mir mit. Den Rest des Abends verlebe ich wie im Rausch. Ja, ich habe das geschafft!

Für nächste Woche haben wir gleich ein weiteres Date vereinbart; und da packe ich den letzten halben Meter auch noch!

 

 

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