Donnerstag, 26. April

Veröffentlicht auf von Justus-Roth

Heute erwartet mich ein knallvolles Programm. Nach Blutentnahme und Frühstück (7 Fettpunkte) geht es in einen großen Besprechungsraum, in dem uns laut Plan der Chefarzt das Reha-Konzept erläutern soll. Der Chef ist jung und dynamisch, betont aber, dass er nur für drei Monate hier sei, bis der neue, „richtige“ Chef käme und jetzt müsse er auch weg. Die Gesprächsleitung übernimmt der Hauspsychologe, der in der kurzen Kennenlernrunde gleich sein Kurz-vor-der-Rente-Alter, sein Singledasein und die Tatsache, dass er bei seiner Mutter wohnt an uns verrät. Das klingt vielversprechend! Er powerpointet gewieft durch das VOR-Konzept, die „verhaltensorientierte Rehabilitation“, die ganz viele psychologische Aspekte einbezieht; und deshalb gibt es zweimal wöchentlich Gruppensitzungen, in denen ganz unsere Gefühle und Schmerzen und die Psychosomatik und die Somatopsychik im Mittelpunkt stehen. Und überhaupt seien ja alle Schmerzerkrankungen von der Psyche verursacht; das sei ganz wichtig zu verstehen. Unter diesem Aspekt muss ich mal in Ruhe über mein verunfalltes Knie nachdenken. Dann verteilt er noch Schmerztagebücher mit der Bitte, die Schmerzen genauestens zu dokumentieren, das sei wichtig für die Behandlung. Da ich die ärztliche Eingangsuntersuchung habe, kann ich seinen Ausführungen nicht bis zum Ende folgen. Ob ich wesentliches verpasst habe? Ich fürchte, eher nicht.

Bei der Ärztin erscheine ich genau eine Minute zu spät und kassiere prompt einen sehr lauten Anschiss. Ansonsten entpuppt sie sich als temperamentvolle Wuchtbrumme, deren Überfülle den winzigen Behandlungsraum schier sprengt. An ihrer Seite sitzt ein schmaler, verschreckter Assistenzarzt, dessen Anwesenheit sich in großäugigem Schweigen erschöpft. Krachend erzählt mir die Dame drei Trompeterwitze, die ich schon kenne, aber höflich lachend quittiere. Meine Diagnosen interessieren sie nicht wirklich. Migräne? Na ja. Fibro – was? Ach ja. Ich soll mich mal ausziehen. Die Fenster sind weit geöffnet; draußen sind es etwa 8 Grad. Es sei etwas kalt, bemerke ich. Mir nicht, ist die Antwort, ich soll mich nicht so anstellen. Brav dehne ich mich frierend nach rechts und links, bringe die Hände auf den Fußboden, laufe auf den Zehenspitzen einen Meter und auf den Fersen und soll mich schon wieder anziehen, das war´s dann schon, alles ganz ausgezeichnet, ich sei im Grunde völlig in Ordnung. Ich wage die Bemerkung, dass ich hypermobil und entsprechend beweglich sei, die Defizite seien woanders. Na, dann gewöhnen Sie sich mal an Sport, war die launige Antwort. Mir fiel dann noch schnell ein, ob ihr mein Knieproblem bewusst sei. Ah, ich hätte ein Knieproblem? Anscheinend hatte sie die vielen Röntgenbilder, MRT-CDs und Krankenhausberichte nicht einmal überflogen. Eine Zweiminutenuntersuchung später hieß es, na ja, gut sei es nicht, aber damit könne man prima leben, wenn man nicht zu viel Sport macht. Was denn mein Therapieziel sei? Meine berufliche Zukunft zu klären. Sie guckt mich verdutzt an. Na, da gehn's halt zum Sozialdienst. Und noch Muskelaufbau, schiebe ich vorsichtig nach. Das geht. Ob sie mein Schmerztagebuch, das ich zuhause akribisch führe, sehen möchte? Schmerzen, nein, die gehen sie als Ärztin nichts an. Damit müsse ich zum Psychologen. Mit leichter Hand schreibt sie noch eine Diätverordnung für die Küche, die sich in Nichts von den anderen Teilnehmern im Programm unterscheidet. Sollte ich mit meinen 1,75m und 60 Kilo Gewicht wirklich zu dick sein? Und alle merken es, nur ich nicht? Welch grausliche Vorstellung.

Da ich so schnell wieder draußen bin, erwische ich noch die zweite Hälfte der obligatorischen Hausführung. Die junge, etwas flippige Hausdame wird nicht müde zu betonen, wie wichtig es sei, pünktlich zu erscheinen. Diverse Räumlichkeiten und Abläufe erklärt sie locker und kompetent. Am Ende steht die Therapieplanausgabe. Die Dame verschwindet – und wir warten. Der Flur, in dem wir stehen ist ungemütlich, Sitzgelegenheiten gibt es nicht und es zieht gewaltig. Nach einer Viertelstunde gehe ich, weil ich keine Lust mehr habe. Die Anderen trauen sich nicht. Irgendwie wird mich der Plan schon erreichen, bis dahin halte ich mich an das vorläufige Papier. Wird schon klappen. Während ich anschießend auf mein psychologisches Einzelgespräch warte, kommen mir Zweifel: bin ich am richtigen Ort? Zur richtigen Zeit? Mit 20 Minuten Verspätung kommt der Psychologe angerannt, entschuldigt sich wortreich, bittet mich in sein Zimmer und erklärt mir als Erstes, dass er keine Erklärungen haben will, keine Interpretationen, sondern nur Antworten auf die Fragen, die er mir stellt. Im Übrigen habe er sowieso wenig Zeit. Ob ich das verstanden hätte? Mon dieu! Da hat aber einer die Verhaltenstherapie verinnerlicht. Und schon bei der ersten Frage, die er stellt, nämlich nach der Diagnose, bekomme ich einen herben Anschiss, weil ich beflissen die drei Hauptdiagnosen mitteile. Nur eine, bitte? Und die anderen? Danach habe er nicht gefragt, deshalb will er auch da keine Antwort. Ob ich Hobbys habe. Golfspielen. Ist das alles? Ich lese gerne. Sonst noch was? Ich habe Interesse an der Welt und einen wunderbaren Ehemann. Er schüttelt resigniert den Kopf. Mit „Reisen“ oder „lange Spaziergänge am Strand“ hätte ich wohl eher ins Schema gepasst. Und so geht es munter weiter. Er hakt seine Liste ab, staucht mich immer wieder rüde zusammen, füllt alles aus, informiert mich über Datenschutz und guckt immer wieder demonstrativ auf die Uhr. Wahrscheinlich wartet seine Mutter mit dem Essen auf ihn. Ich wage zu fragen, ob der mein Schmerztagebuch sehen möchte. Schmerztagebuch? Das soll er jetzt auch noch lesen? Also, das gehe zu weit. Nach 60 Minuten bin ich entlassen mit dem sicheren Gefühl, dass das, was er aufgeschrieben und abgefragt hat, meine Persönlichkeit und meine gesundheitlichen Defizite nicht ansatzweise spiegelt.

Mein Mittagessen enthält 15 Fettpunkte im traurigen Salat und den trockenen Möhren mit ein paar Mozzarella-Kügelchen und Billig-Essig-Öl-Dressing. Und ausgerechnet heute reiht sich so vieles an Terminen aneinander, dass für ein Sahnetörtchen keine Zeit bleiben wird. Direkt nach dem Mittagessen geht es zur „Bewegungskompetenz“ in die Gymnastikhalle. Das Problem, dass ein voller Bauch beim Sport stört, habe ich eher nicht. Dazu kommt, dass wir zwar sportlich im Kreis inmitten des ungemütlich an Grundschulturnhallen der späten 60er Jahre erinnernden Raumes stehen, aber die Dame, die den Kurs leitet, erst einmal viel erzählt. Von ihrer Tochter, die bald heiratet, deshalb sei sie zwei Wochen weg, und was dann drankommt, wenn jemand anders dann den Kurs übernimmt, und dass es verschiedene Arten der Bewegungskompetenz gibt. Nach 10 Minuten höre ich nicht mehr zu, nach weiteren 10 Minuten setze ich mich auf den Boden und werde prompt angepampt, dass ich am mobilen Stehen ja wohl noch zu arbeiten habe. Aber immerhin sollen wir jetzt tatsächlich etwas tun. Jeder soll eine Bewegung vormachen und die anderen sollen sie nachmachen. Wie? Ja, eine einfache Bewegung. Die erste beginnt etwas verunsichert und liefert prompt keine Bewegung, sondern eine Übung. So gehe das nicht! Noch unsicherer wagt sie einen zweiten Versuch und macht eine Dehnung, keine Bewegung. Wir soufflieren nicht minder ratlos mit Vorschlägen. Irgendwann haben wir kapiert, dass es reicht, einen Arm oder ein Bein minimal zu heben und das ist dann eine Bewegung. Nun gut. Ich wage eine Drehung der Arme mit dem Hinweis auf Entlastung der Schultern und werde – man ahnt es – einmal mehr gemaßregelt. Nach 20 Minuten wird mir kalt und ich bin froh, dass ich in die Medizinische Trainingstherapie MTT darf.

Hier erwarten mich Geräte auf mäßig großzügiger Fläche in einem Raum, der mit seinen gemauerten niedrigen Bögen und dem orange-dunkelgrünen Farbkonzept an die Kellerdiscos meiner Jugend erinnert. Für meine Einweisung ist ein junger polnischer Trainer zuständig. Er fragt mich routiniert nach der Diagnose und ob ich Sport mache. Ja, entgegne ich glückstrahlend, ich spiele Golf. Der junge Mann dreht sich wortlos um und lässt mich stehen, um mit einem anderen Patienten die Spielerstatistiken des FC Bayern zu diskutieren. Verblüfft stehe ich eine Weile in der Gegend rum, bis er auf ein Ergometer weist und blafft „10 Minuten“. Er stellt mir 60 Watt ein, meiner Nachbarin 30. Zu seinem Erstaunen schaffe ich die 60 locker. Dann geht es zu einer üblen Bauchmuskel-Übung auf den Gymnastikball. Er grinst leicht diabolisch und ist erstaunt, dass ich auch diese Übung routiniert packe und sogar noch lächle dabei. Inzwischen drehen sich die Diskussionen um Eishockey. Ich scheine durch meine schiere Anwesenheit zu stören. Als nächstes geht es an eine Zugmaschine, die ich nicht bewegen kann. Ich bitte um weniger Kilos und bekomme als Antwort, weniger gehe nicht, die Maschine sei kaputt und das schaffen selbst 80-jährige Opas. Ich soll mich doch mehr anstrengen. Ich bemühe mich wirklich und spüre ein unangenehmes Knirschen in der Halswirbelsäule. Energisch wende ich mich von der Maschine ab und sage laut und deutlich „Nein!“ Und siehe da: auf einmal widmet er sich ganz mir, hat Verständnis, hat Zeit, ist einfühlsam und hört zu. Allmählich bricht das Eis und er stellt fest, dass ich vieles schon weiß, viel will, aber auch meine Grenzen kenne. Fast 60 Minuten sind wir so beschäftigt. Ein Lächeln und ein Tütchen Gummibärchen kriege ich zum Abschied – und freue mich auf den nächsten Termin.

Anschließend husche ich zur Krankengymnastik herüber, noch lächelnd, gut gelaunt und vollkommen ahnungslos, was mich erwartet. Der Physiotherapeut lässt sich meine Probleme schildern und untersucht sehr gründlich beide Knie. Sie wissen, dass da nichts mehr heilbar ist? Ja, sage ich, das ist mir klar. Wir können lindern. Ja, ich hoffe! Und was ihrem Knie bevorsteht, wissen sie auch? Ein künstliches Kniegelenk, frage ich? Nein, ist die ehrliche Antwort, zwei künstliche Kniegelenke, aber wir können den Zeitpunkt noch herauszögern. Dann geht er an die Muskeln des linken Oberschenkels und der Füße, erläutert, warum die Probleme entstehen, wenn im Fuß die kleinen Gelenke nicht ordnungsgemäß funktionieren und löst mit sanfter Gewalt alles, was dort klebt und hängt. Ich durchlebe sämtliche Stadien orangefarben leuchtender Schmerzen. Am Anfang wimmere ich noch leise, irgendwann schreie ich. Er hört immer wieder auf und irgendwann flachsen wir gemeinsam rum und versuchen, durch lustige Sprüche das Ganze für mich erträglicher zu machen. Meine Schreie dringen durch das gesamte Untergeschoss. Und als ich den Raum verlasse, sehe ich davor auf den Stühlen drei ältere Herrschaften sitzen, die mich fassungslos und ängstlich anstarren. Ich bringe ein „Entschuldigung, ich bin immer so laut dabei“ über die Lippen und schreite von dannen.

Am Ende des Tages steht mir noch ein ganz besonderes Event bevor, die progressive Muskelentspannung, immer wieder viel diskutiert und leider bei mir trotz lange Zeit regelmäßiger Übung bei Migräneattacken vollkommen wirkungslos. Die Therapeutin erscheint verspätet und mit vollgestopftem Mund. Sie hätte noch Hunger auf Schokolade gehabt, röhrt es aus dem zierlichen Körper. Und dann geht es los: mit einem lauten und sehr männlichem Sprechorgan gesegnet reißt die Dame mit niederländischem Akzent einen Flachwitz nach dem anderen. Diese herzlich-laute Mischung aus Linda de Mol und Stefan Raab ist unschlagbar; ich bin hin- und hergerissen, ob ich peinlich berührt oder amüsiert sein soll. Dann legen wir uns hin und sie röhrt was von tiefen Atemzügen und entspannter Haltung, um dann festzustellen, dass sie noch was vergessen hat und am besten nochmal anfängt. Am Ende tut zwar der Rücken vom harten Boden weh und ich bin in dem kühlen Raum total durchgefroren, aber ich gehe mit einem Lächeln auf den Lippen zum kargen Abendessen.

Auf meinem Zimmer sind inzwischen zwei Fernbedienungen eingetrudelt. Ich mache es mir gemütlich und freue mich auf die zwei Äpfel, die ich vom Frühstück mitgebracht habe. Leider sind beide unter der propperen Schale völlig verfault. Mit knurrendem Magen gehe ich ins Bett.

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